Inhalt
Die meritorische Gerichtsbarkeit in Steuerfragen wird in Italien von Sondergerichten, den sog. Steuerkommissionen, ausgeübt. Die Steuerkommissionen haben eine lange Tradition und wurden bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingerichtet. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich diese Organe von reinen Verwaltungsinstanzen hin zu einer wirklichen Gerichtsbarkeit entwickelt, wobei eine umfassende und ausschließliche Zuständigkeit für Steuerfragen im Grunde erst infolge einer Gesetzesnovelle im Jahre 2001 erreicht wurde.
Zu einem besseren Verständnis der Besonderheiten des Steuerstreitverfahrens, welche nicht zuletzt auch der Sonderstellung der gegenständlichen Rechtsmaterie geschuldet sind und dieser Rechnung tragen, wird im Werk zunächst die geschichtliche Entwicklung des Steuerstreitverfahrens und der für Steuerfragen zuständigen Rechtsprechungsorgane nachgezeichnet. Noch bis in die 1970er-Jahre wurden Steuerstreitigkeiten mitunter in sechs Verfahrensinstanzen verhandelt, was natürlich sowohl aus der Sicht der Staatsverwaltung und noch mehr aus der Sicht des steuerpflichtigen Bürgers völlig ineffizient und unbefriedigend war.
Nach einer ersten tief greifenden Reform im Jahre 1972 hat das italienische Parlament die Regierung beauftragt und ermächtigt, die Steuerkommissionen neu zu organisieren und das Steuerstreitverfahren neu zu regeln. Am 31. Dezember 1992 wurden in Umsetzung dieser Ermächtigung schließlich das gesetzesvertretende Dekret 31.12.1992, Nr. 545 über die Gerichtsordnung und das gesetzesvertretende Dekret 31.12.1992, Nr. 546 über die entsprechende Verfahrensordnung verabschiedet.
Trotz der inzwischen organischen Regelung in besagten gesetzesvertretenden Dekreten, ist bis heute eine systematische Einordnung des Steuerstreitverfahrens und der Steuerkommissionen als Rechtsprechungsorgane in der italienischen Rechtsordnung nicht ganz einfach und unproblematisch, wie im dritten Kapitel aufgezeigt wird.
Wie bereits erwähnt, wollen die Verfasser mit dem vorliegenden Werk einerseits den sehr engen deutsch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen und dem damit verbundenen Interesse der deutschen Rechtsanwender auch am italienischen Steuerrecht und Steuerverfahrensrecht Rechnung tragen, andererseits aber auch einen Beitrag zur praktischen Verwirklichung der Gleichstellung der deutschen und der italienischen Sprache vor Gericht in Südtirol leisten.
Der Prozesssprache in Italien ist das vierte Kapitel gewidmet. Für die verschiedenen Rechtsinstitute wurden im Werk durchgehend deutsche Begriffe verwendet. Naturgemäß entsprechen die italienischen Rechtsinstitute nicht unbedingt den begriffsgleichen oder begriffsähnlichen Instituten in fremden Rechtsordnungen. Andere in diesem Buch beschriebenen Rechtsinstitute sind der deutschen, österreichischen oder schweizerischen Rechtsordnung sogar völlig fremd.
Das gesetzesvertretende Dekret 31.12.1992, Nr. 545 schreibt, wie gesagt, die Gerichtsordnung für die Steuerkommissionen fest. Kapitel fünf beschäftigt sich mit den von der Gerichtsordnung vorgesehenen Organen der Steuergerichtsbarkeit und deren Verwaltung sowie mit der Zuständigkeit des jeweiligen Rechtsprechungsorgans, bevor in den folgenden Kapiteln auf die Verfahrensordnung in den verschiedenen Instanzen einschließlich der jeweiligen Möglichkeiten des vorläufigen Rechtsschutzes eingegangen wird. Dabei wurde Wert darauf gelegt, dass nicht nur die jüngsten gesetzlichen Neuerungen berücksichtigt, sondern auch auf die teils sehr interessanten Entwicklungen in der Rechtsprechung angemessen eingegangen wird.
Ein eigenes Kapitel (Kapitel zehn) wurde dem Verfassungsgerichtshof gewidmet, und zwar im Bewusstsein, dass kaum ein Buch zum italienischen Steuerstreitverfahren dem nachkommt. Es ist nun aber eine Tatsache, dass der Verfassungsgerichtshof in den letzten Jahrzehnten sehr oft als Folge von Verfassungsbeschwerden, mit tief greifenden Auswirkungen in laufende Steuerstreitverfahren und somit in das Steuerrecht hat eingreifen müssen, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die italienische Steuergesetzgebung ständigen Änderungen ausgesetzt ist und aus diesem Grund wohl oft improvisiert erscheint. Das macht die Materie einerseits komplex und verworren, andererseits lässt sie jene Systematik, Nachvollziehbarkeit und Transparenz vermissen, die eine moderne Gesetzgebung erst bürgernah macht und welche eine gute Verwaltung der öffentlichen Hand erst ermöglicht. Die als Zwischenverfahren − incidenter tantum - Prüfung − in das Steuerstreitverfahren eingebettete Verfassungsbeschwerde ist für die Bürgerinnen und Bürger der einzige Weg, um prüfen zu lassen, ob die belastende Steuernorm und die sich daraus ergebende Besteuerungsmaßnahme auch verfassungsmäßig und grundrechtskonform ist.
Ebenfalls in kaum einem Buch über das Steuerstreitverfahren in Italien ist der Inhalt der Kapitel 11, 12 und 13 zu finden. Diese Kapitel scheinen den Autoren aber wesentlich, weil sie zum einen den Entwicklungen der internationalen und europäischen Wirtschaftsvernetzung Rechnung tragen, zum anderen aber auch dem Leser begreiflich machen, dass die moderne italienische Rechtsordnung kein isoliertes Steuersystem darstellt, sondern unter einigen Aspekten dem Unionsrecht und dem Völkerrecht mittlerweile nahezu ausgeliefert ist.
In Kapitel elf wird darum kurz eingeführt, was unter Internationalem Steuerrecht und was unter Europäischem Steuerrecht zu verstehen ist und worin sich diese Rechtsgebiete unterscheiden.
Kapitel zwölf befasst sich dann mit dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), dessen Wichtigkeit bzw. dessen steigende Wichtigkeit auch für das Steuerrecht unbestritten ist. Erstaunlich ist allerdings der Umstand, dass bei den Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union in den letzten Jahren die Rechtssachen, die das Steuerrecht betreffen, nach der Statistik des EuGH, die relative Mehrheit der eingeleiteten Verfahren ausmachten und beispielsweise weit mehr Fälle betrafen als die Rechtssachen, die die Einhaltung der einzelnen Grundfreiheiten zum Inhalt hatten.
In Kapitel dreizehn wird das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) behandelt, dessen Bedeutung für das Steuerrecht keinesfalls mit jener des Gerichtshofs der Europäischen Union vergleichbar ist. Allerdings besteht heute ein wahrer Ansturm auf dieses Gericht. Seit seinem Bestehen bis heute wurden vor dem EGMR rund 670.000 Beschwerden anhängig gemacht. Am 1.Januar 2015 waren rund 70.000 Beschwerden anhängig, wobei 19 % davon Italien betrafen. Am 29. Februar 2016 waren 67.200 Beschwerden anhängig. Davon betrafen 11,2% Italien. Italien gehört seit jeher zu jenen Staaten, die die meisten Individualbeschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig haben. In der Regel haben nur die Ukraine, Russland und die Türkei mehr anhängige Verfahren.
Während der Gerichtshof zu Beginn seiner Tätigkeit hauptsächlich mit strafrechtlichen oder strafverfahrensrechtlichen Fragen befasst war, ist das Spektrum heute sehr weitgefächert und betrifft immer mehr auch das Steuerrecht und das Steuerprozessrecht, wie anhand einiger ausgewählter Fälle beispielhaft aufgezeigt wird. In diesem Lichte kann heute dem EGMR auch für das Steuerstreitverfahren eine nicht zu vernachlässigende Rolle zugesprochen werden.
Wie im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit war der italienische Gesetzgeber in den letzten Jahren auch im Bereich der Steuergerichtsbarkeit zunehmend bemüht, die alternativen Möglichkeiten der Streitbeilegung zu fördern und zu stärken.
Damit wird zum einen die Absicht verfolgt, die enorme Belastung der in der Regel erheblich unterbesetzten Gerichte zu mindern, zum anderen aber auch, dem Staat zu relativ schnellen Einnahmen zu verhelfen. Die alternativen Möglichkeiten der Streitbeilegung werden in Kapitel 15 untersucht, wobei die nicht unerheblichen Änderungen durch das gesetzesvertretende Dekret 24.09.2015, Nr. 156 besondere Berücksichtigung finden.
Der Vollständigkeit halber werden im vorletzten Kapitel die Sanktionsmechanismen im italienischen Steuerrecht und im Besonderen die Wechselwirkung zwischen Steuerstrafverfahren und Steuerstreitverfahren behandelt. Auch das System des Steuerstrafrechts, wie auch die steuerrechtlichen Ordnungswidrigkeiten, wurden letzthin vom Gesetzgeber überarbeitet und haben mit dem gesetzesvertretenden 24.09.2015, Nr. 158 umfangreiche Änderungen erfahren.
Im abschließenden Kapitel werden die Grundzüge der Steuereinhebung dargelegt. Insbesondere die verschiedenen Sicherstellungsmaßnahmen der Finanzbehörde und des Einhebungsbeauftragten können schwerwiegende Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit des Steuerpflichtigen haben und dürfen vom Rechtsanwender bei der Bewertung der Sachlage und der beabsichtigten Verfahrensstrategie keinesfalls außer Acht gelassen werden.